Mit Beginn der COP30 steht Argentinien am Rande der internationalen Klimadiplomatie. Aktuell erlebt das Land unter anderem einen starken Abbau von Institutionen und neue Abhängigkeit vom Extraktivismus ‒ dabei war es mal Vorreiter in Sachen Klimaschutz.
Zehn Jahre nach der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens steht die Welt vor einem Wendepunkt. Die Klimakonferenz COP30 in Belém, Brasilien, wird nicht nur die Bilanz über ein Jahrzehnt globaler Klimapolitik ziehen. Sie findet auch in einer Region statt, in der Ungleichheit, Extraktivismus und Umweltzerstörung weiterhin tief mit politischen und wirtschaftlichen Strukturen verflochten sind.
Argentinien nimmt inmitten eines Moments des umweltpolitischen und institutionellen Rückschritts an der COP30 teil. Die aktuelle Regierung leugnet den Klimawandel, baut zentrale Institutionen ab und zieht sich aus internationalen Prozessen zurück ‒ ein scharfer Kontrast zu den eigentlichen Verpflichtungen des Pariser Abkommens. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich Argentinien von seiner aktiven Rolle in der globalen Klimapolitik beispiellos zurückgezogen. Die aktuelle Positionierung markiert einen Wendepunkt in der Außen- und Umweltpolitik des Landes. Die COP30 bietet Gelegenheit, das Ausmaß dieses Rückzugs unter die Lupe zu nehmen und zu verstehen, ob das Engagement in Zukunft wieder aufgenommen werden könnte.
Ein fragiles Jahrzehnt für Klima und Politik
Als das Pariser Abkommen 2015 unterzeichnet wurde, befanden sich Argentinien und andere Länder Lateinamerikas in einer Phase erneuerter multilateraler Zusammenarbeit. In den folgenden Jahren stärkten viele Länder ihre institutionellen Rahmen für Klimapolitik und orientierten sich an den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals). Argentinien verabschiedete das nationale Klimaschutzgesetz (Nr. 27.520) und entwickelte erste Planungsinstrumente wie den Nationalen Anpassungs- und Minderungsplan.
Hinter diesen Fortschritten bestanden unterschwellige Spannungen weiter. Beteiligungsprozesse wurden formal eingehalten, aber nicht inhaltlich gefüllt. Die Energiepolitik des Landes blieb stark von fossilen Brennstoffen abhängig. Das Konzept eines „gerechten Übergangs“ (just transition) kam in keine praktische Umsetzung, die finanziell unterlegt wurde.
Seit 2023 hat sich die Lage weiter verschärft. Ein tiefgreifender institutioneller Abbau hat die Umweltgovernance erheblich geschwächt: Budgetkürzungen, die Herabstufung wichtiger Bereiche [etwa in Ministerien] und das Verschwinden der Klimapolitik aus dem öffentlichen Diskurs spiegeln eine umfassendere Regierungskrise wider. Der Rückzug aus internationalen Räumen und der Erosionsprozess umweltpolitischer Institutionen folgen dabei einem Muster, das sich in Teilen des Globalen Südens wiederholt: Wirtschaftliche Krisen dienen als Rechtfertigung für Deregulierung von Umweltgesetzen und die Ausweitung der Ausbeutung von Ressourcen.
Wie können die Länder Lateinamerikas Extraktivismus und Ungleichheit überwinden, um gerechte, demokratische und kohlenstoffarme Gesellschaften aufzubauen?
Die Verabschiedung des Anreizsystems für Großinvestitionen (Régimen de Incentivo para Grandes Inversiones - RIGI), das auf die Förderung großer Bergbau- und Energieprojekte abzielt, steht exemplarisch für diese Entwicklung. Solche Maßnahmen setzen kurzfristige Investitionsinteressen über langfristige Resilienz und soziale Gerechtigkeit. Gleichzeitig schwächen sie öffentliche Beteiligung, beschränken den Informationszugang und das Einhalten von Umweltgesetzen.
Die Erarbeitung des dritten argentinischen Klimaschutzziels (Nationally Determined Contribution 3.0) Ende 2025 verdeutlicht diese Diskrepanz weiter. Zwar erfüllte Argentinien damit formal seine Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Abkommens, doch geschah dies ohne echte Beteiligung, Transparenz oder Ambition.
Dieses politische und institutionelle Vakuum wirft eine zentrale Frage für Argentinien und die Region auf: Wie können die Länder Lateinamerikas Extraktivismus und Ungleichheit überwinden, um gerechte, demokratische und kohlenstoffarme Gesellschaften aufzubauen, gerade in Zeiten, in denen das Leugnen des Klimawandels und institutioneller Abbau die Grundlagen globaler Klimapolitik bedrohen?
Territorien als politische Räume betrachten
Während auf nationaler Ebene Rückschritte zu verzeichnen sind, setzen Akteure in den argentinischen Regionen weiterhin auf Mobilisierung und Innovation: Kommunen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Jugendbewegungen und Wissenschaftseinrichtungen halten die Klima- und Umweltagenda lebendig, oft im Zusammenhang mit Kämpfen um Rechte, Gesundheit und Lebensgrundlagen. Gleichzeitig stehen diese Territorien an vorderster Front der Krise. Extreme Wetterereignisse verdeutlichen zunehmend die Verwundbarkeit des Landes, wie etwa im März 2025 in Bahía Blanca, wo ein verheerender Sturm Todesopfer und hohe wirtschaftliche Schäden forderte. Diese Ereignisse verdeutlichen die Dringlichkeit von Anpassungsmaßnahmen und zeigen zugleich , wie ungleich Regionen darauf reagieren und sich auch wieder erholen können.
Mehrere argentinische Provinzen treiben zwar eigene Klimaschutz- und Anpassungspläne voran, doch bleiben die klimapolitischen Fortschritte fragmentiert und werden oft von kurzfristigen, extraktiven Interessen überschattet: viele Provinzregierungen fördern neben Klimamaßnahmen gleichzeitig fossile Energie- oder Bergbauprojekte. Eine kohärente und präventive Klimapolitik erfordert daher, diese Widersprüche zu überwinden und Klimaschutz mit Biodiversität, Menschenrechten und dem Schutz der am stärksten von Verlusten und Schäden betroffenen Gemeinschaften zu verbinden.
Mehrere argentinische Provinzen treiben zwar eigene Klimaschutz- und Anpassungspläne voran, doch bleiben die klimapolitischen Fortschritte fragmentiert.
Tatsächlich geht territoriales Handeln oft über reine „Klimapolitik“. Es entsteht dort wo gegen Entwaldung gekämpft, Wasser und Land verteidigt und gerechtere Wirtschaftsmodelle gelebt werden. Zahlreiche lokale Gemeinschaften in Patagonien, Cuyo und im Norden Argentiniens stellen sich fossilen und Bergbau-Projekten entgegen, welche die Ökosysteme und lokale Wirtschaft bedrohen. Diese Auseinandersetzungen zeigen, dass Umweltpolitik nicht nur Emissionsziele oder Anpassungsstrategien umfasst, sondern auch eine Frage von Macht, Territorium und dem Recht, über Entwicklung selbst zu bestimmen, ist.
Ähnliche Spannungen bestehen in ganz Lateinamerika: Das Amazonasbecken, der Gran Chaco und die Andenregion konzentrieren sowohl ökologischen Reichtum als auch tiefgreifende sozial-ökologische Konflikte. Belém, im Herzen des Amazonas gelegen, der zugleich Hoffnung und Widerspruch symbolisiert – als größter Kohlenstoffspeicher der Erde und zugleich eine der am stärksten umkämpften Regionen für den Abbau von Rohstoffen.
Territorien müssen als politische Räume und nicht als bloße Orte technischer Umweltverwaltung anerkannt werden. Dies ist entscheidend, um die Herausforderungen bei der Umsetzung globaler Verpflichtungen in zutiefst ungleichen Gesellschaften zu verstehen.
Belém und die Bedeutung einer lateinamerikanischen COP
Die Rückkehr der Klimakonferenz nach Lateinamerika ‒ fast ein Jahrzehnt nach der letzten ‒ hat große symbolische Bedeutung. Die COP30 könnte zu einer Gelegenheit werden, regionale Realitäten und Prioritäten auf die globale Bühne zu bringen, etwa zu den Themen Anpassung, Verluste und Schäden oder gerechter Übergang (just transition). Jedoch besteht die Gefahr, dass sie erneut in wohlklingenden, aber realitätsfernen Erklärungen mündet.
Für die Länder Lateinamerikas besteht die Herausforderung darin, globale Narrative in Politiken zu übersetzen, die ihren eigenen sozialen Ungleichheiten gerecht werden. Ein gerechter Übergang darf nicht auf technologische Lösungen oder CO₂-Bilanzen reduziert werden; er muss auch die sozialen und ökonomischen Strukturen in Frage stellen, die Verwundbarkeit und Ausgrenzung reproduzieren.
Die wachsende globale Nachfrage nach sogenannten „Übergangsmineralien“ wie Lithium und Kupfer verstärkt bestehende Machtasymmetrien ‒ sowohl zwischen Nord und Süd als auch innerhalb der Regionen selbst. Ohne solide Governance und breite Teilhabe droht die Energiewende alte Abhängigkeitsmuster zu wiederholen. Daher müssen Menschen und Gemeinschaften im Zentrum der Transformation stehen, damit Klimaschutz nicht Ungleichheiten vertieft, sondern Rechte stärkt und soziale Gerechtigkeit fördert.
Lateinamerika hat die Chance zu zeigen, dass Klimapolitik auch Sozialpolitik sein kann, dass Resilienz und Demokratie von unten, aus den Territorien, wachsen kann.
Für Argentinien ist die Lage komplex und ungewiss. Das Land nimmt an der COP teil, während seine Umweltinstitutionen geschwächt, der Klimaskeptizismus in der Regierung offen artikuliert und die die multilateralen Prozesse zunehmend vernachlässigt werden. Ob Argentinien abseits bleibt oder über andere Akteur*innen wieder Anschluss findet, wird maßgeblich bestimmen, wie sichtbar sein Beitrag wird. Das Fehlen nationaler Führungsstärke droht den Handlungsspielraum jener einzuschränken – Provinzregierungen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft –, die trotz knapper Ressourcen und schwächerer Institutionen weiterhin Teile der Klimapolitik aufrechterhalten.
In Belém werden Debatten über Anpassung und gerechte Transformation eine zentrale Rolle spielen. Für Argentinien bedeutet dies, seine Verpflichtungen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Integrität in Einklang zu bringen, aber zugleich die institutionellen und partizipativen Grundlagen wiederaufzubauen, die für ihre Umsetzung notwendig sind. Eine glaubwürdige und ambitionierte Klimapolitik kann nur mit den Menschen im Zentrum bestehen.
Lateinamerika hat die Chance zu zeigen, dass Klimapolitik auch Sozialpolitik sein kann, dass Resilienz und Demokratie von unten, aus den Territorien, wachsen kann. Damit dies gelingt, muss die COP in Belém die Stimmen lokaler Akteur*innen, indigener Gemeinschaften und zivilgesellschaftlicher Netzwerke stärken, die ihre Territorien trotz schrumpfender Handlungsspielräume und wachsender politischer Ernüchterung verteidigen.
Die politische Bedeutung dieser COP wird sich nicht allein an neuen Zielen oder Zusagen messen lassen, sondern daran, ob sie Vertrauen und Multilateralismus in einer Region wiederaufbaut, in der beides zunehmend fragil ist.
Ein Kontinent wankt zwischen Fragmentierung und Möglichkeit
Zehn Jahre nach Paris spiegelt Argentinien viele der strukturellen Herausforderungen Lateinamerikas wider: fragile Institutionen, gesellschaftliche Resilienz und die dringende Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsvertrags für Umwelt und Klima. Zugleich zeigt das Land spezifische Dynamiken: einen tieferen institutionellen Rückschritt und eine explizite Leugnung des Klimawandels, wie in keinem anderen Land der Region. Während Argentinien mit seinen Nachbarn die strukturellen Spannungen von Extraktivismus und Ungleichheit teilt, offenbart der jüngste institutionelle Abbau, wie schnell politische Rückschritte globale Verpflichtungen untergraben können.
Das kommende Jahrzehnt wird zeigen, ob Lateinamerika den Extraktivismus überwinden und neue Governance-Rahmen schaffen kann, die Ökologie, Demokratie und Gerechtigkeit verbinden. Die COP30 - im Herzen des größten Regenwaldes der Erde ‒ erinnert daran, dass Klimapolitik mehr ist als Kohlenstoffbilanzierung. Sie ist Ausdruck politischer Entscheidungen, die unsere Territorien und unsere Zukunft prägen.
Für Argentinien und die Region stellt sich damit nicht die Frage, ob sie handeln, sondern welche Art von Transformation sie anstreben, und für wen.